Der Silvesterkarpfen gehört für mich zu Silvester wie das Feuerwerk. (Während man Karpfen aber jederzeit zwischen April und Oktober - den Monaten mit
rrrrr - essen kann, ist Feuerwerk für mich ein silvesterspezifisches
Zubehör.)
In meinen Kinder-und Jugendjahren hat immer mein Vater den
Karpfen zubereitet. Es gab einen präzisen Zeitplan für jeden einzelnen
Kochschritt, und so wurde im Laufe der Jahre aus der Zubereitung des
Karpfens für mich ein echtes Ritual. Das Gemüse wurde in exakt gleichgroße Stifte geschnitten, die Gewürze kamen in ein Gazesäckchen, das aus einer
Mullplatte aus dem Verbandskasten geschnitten war, die
Meerrettichbutter wurde liebevoll gerührt, Zitronenachtel geschnitten,
und der von den netten Verkäuferinnen bereits halbierte Karpfen (mein
Papa zeigte immer mitleidheischend seine fingerarme Zimmermannshand, da
war das dann ohne Aufpreis dabei) kam in seinen Gemüsesud, wenn die
Kartoffeln angesetzt wurden, dann waren beide gleichzeitig gar. (Test:
Wenn man eine Flosse einfach herausziehen kann, ist der Fisch auf den
Punkt gegart.)
Nachdem
ich meinen eigenen Haushalt gegründet hatte, gab es auch bei uns immer
Silvesterkarpfen. Woher ich den Fisch in den ersten Jahren geholt habe,
weiß ich nicht mehr. Einmal, daran erinnere ich mich, hatten wir einen
vom Discounter, aus der Gefriertruhe. Zum Auftauen legten wir ihn ganz
oben auf den Küchenschrank, wegen der Katzen. Als wir am Silvestermorgen
aufwachten, waberte ein infernalisch schlammiger Fischgestank durchs
Haus, dessen Ursprung schnell ausgemacht war: Unter der Treppe lagen die
zerfledderten Reste des Karpfens. Jetzt dämmerte mir auch, daß ich das
rhythmisch wiederkehrende Klopfen in der vergangenen Nacht nicht
geträumt hatte, sondern daß es sich dabei um die unzähligen
Sprungversuche unseres Katers handelte, der verzweifelt versucht hatte, vom
Papageienkäfig aus auf den 1,10m entfernten Küchenschrank zu springen.
Eigentlich kein Problem, aber der optimalen Flugkurve war die nur 40cm
entfernte Küchendecke im Weg. Irgendwann hat er es dann aber
offensichtlich geschafft. Wir haben dann noch schnell Forellen gekauft.
Seit
wir in Jena wohnen, hole ich den Fisch von einer Forellenzuchtanlage.
Meistens fällt mir erst am Silvestermorgen ein, daß wir einen Karpfen
brauchen. Ich rufe gleich nach dem Aufstehen, also um 10 Uhr, dort an,
versichere, daß ich bis halb 12 da bin und freue mich auf einen frisch
geschlachteten Fisch. So auch heute. Als die Tüte auf dem Tisch neben
der Kasse lag, hatte ich so ein komisches Gefühl und fragte
sicherheitshalber nach, ob der auch wirklich tot sei. Ja. Jaaaa. Jaja,
natürlich.
Warum ich das
fragte? Als ich klein war, hat mal ein geschlachteter, also: toter!
Karpfen dermaßen im Kühlschrank meiner Eltern randaliert, daß da ein
paar Teile zu Bruch gingen. Zwanzig Jahre später fuhren unsere Kinder mit Opa
den Silvesterkarpfen holen und erzählten aufgeregt, daß es während der
gesamten Fahrt im Kofferraum gerumpelt habe wie verrückt, der Karpfen
war da in seiner Tüte herumgesprungen....
Ooohhhm, jetzt habe ich den Spannungsbogen der Geschichte gebrochen stimmt's? Man ahnt, was jetzt kommt, oder?
Also,
ich hatte ein komisches Gefühl. Aber die Tüte war still.
Beziehungsweise der Karpfen da drin. Zu Hause legte ich ihn auf den
Küchentisch. Spannung. Alles war gut, der Fisch war tot. Vorsichtig
knotete ich die Tüte auf, schaute dem toten Fisch ins Auge. Klar. Klar,
der Fisch war ja frisch. Da sind die Augen noch klar. Und schauten mich
an. Heimtückisch. Vorsichtig legte ich eine Hand auf den Fisch. Kalt.
Tot. Aber irgendetwas war unheimlich, da war so eine eigenartige Spannung
in dem Fisch. Scheinheilig säuselte ich zuckersüß: "Schaaaatz, kannst
Du bitte mal gucken, ob der Fisch wirklich tot ist?" Ja, tot, sagt er nach der Prüfung, alles
roger. Mein lieber Mann ging noch schnell einkaufen. Und war weg. Wie immer, wenn man seinen Mann mal braucht.
Der Gemüsesud war inzwischen fertig,
ich setzte das Wasser für die Essigbrühe auf, um den Karpfen zu bläuen
und griff nach dem Messer, um den Fisch zu halbieren. DA SPRANG DAS VIEH
IN WELLENFÖRMIGEN BEWEGUNGEN QUER ÜBER DEN KÜCHENTISCH!
Ich weiß nicht, wie ich dahinkam, aber ich fand mich laut kreischend auf dem Hof wieder. Der Nachbar, der dort gerade mit seinen Kindern spielte, schaute mich entgeistert an. "Der Fisch lebt noch", keuchte ich nur, "der lebt noch und zappelt!" Dann sackte ich heulend auf der Treppe vor dem Haus zusammen.
Irgendwann wagte ich mich wieder zurück ins Haus. Dort hatte meine Tochter das Regiment in der Küche übernommen. Mutig schwang sie das Messer. "Wo soll ich den jetzt durchschneiden?" Als ich es ihr zeigen wollte, legte das Vieh wieder los. Mein gellendes Geschrei schallte vermutlich durch das ganze Viertel.
Irgendwann zwei Schnäpse später lagen zwei kopflose Hälften Fisch auf dem Tisch. "Leg mal eine Hälfte in die Spüle", wies ich meine Tochter an, "ich will das Essigwasser drübergießen". Als die ersten Tropfen auf dem Fisch trafen, zuckte das Viech wieder, ich schaffte es noch bis ins Wohnzimmer, dann sank ich schluchzend auf dem Stuhl nieder. "Komm her, der kann jetzt in den Topf" rief es aus der Küche. Zitternd wankte ich in dorthin, die erste Fischhälfte verschwand im Topf - und sprang fast wieder heraus: Der Karpfen zappelte immernoch, IM KOCHTOPF!
Um es nochmal zusammenzufassen: Zwei Stunden nach dem Schlachten, ohne Innereien, halbiert, ohne Kopf, bereits im kochenden Wasser, hüpft dieser Fisch durch meine Küche. Ich war fix und fertig und griff heulend zum Telefon. Die Nummer vom Fischzüchter war noch eingspeichert. "Ich habe Sie gefragt, und Sie haben mir gesagt, das Vieh ist tot, und jetzt springt der durch meine Küche und randaliert, das ist nicht fair" schrie ich ins Telefon. "Sagen Sie nächstes Jahr einfach Bescheid, wir haben eine Maschine, wir halbieren Ihnen den Fisch gern", hörte ich. "Nächstes Jahr", schrie ich, "nächstes Jahr gibt es keinen Fisch, da gibt es höchstens noch Rührei! DAS ist garantiert TOT!"
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